Armutsbekämpfung abgeschafft

Von Ralf Leonhard · · 2006/12

Die abtretende Regierung setzte auf Exporte und Fertigungsindustrie. Daniel Ortega hat im Wahlkampf die Förderung der Kleinproduktion versprochen. Für die Campesinos wäre das die Rettung.

Der Kollege von den Sunday Times fühlt sich in Managua verloren. Seit 1988 ist er nicht mehr da gewesen. Er hat eine heruntergekommene Stadt am Ende der sandinistischen Revolution in Erinnerung. Seither sind so viele Prachtbauten aus dem Boden geschossen, dass man meinen könnte, man habe sich in der Stadt geirrt: Hotels, Casinos, schicke Restaurants und natürlich Banken. Neue Straßen führen zu eleganten Wohnbezirken, die es damals noch gar nicht gab. Erst in den Randvierteln und außerhalb der Stadt kann man erkennen, dass gleichzeitig mit dem Luxus auch das Elend gewachsen ist. Die zehn Prozent Reichen haben 19 Mal mehr als die ärmsten 40 Prozent. 72,6 Prozent der Bevölkerung sind arm, sagt die Statistik, 44,7 Prozent extrem arm. Hunger herrscht paradoxer Weise vor allem auf dem Land, wo die Nahrungsmittel produziert werden.
Der Nationale Entwicklungsplan der abtretenden Regierung sieht weder Armutsbekämpfung noch Förderung der Nahrungsmittelproduktion vor. Man setzt auf Monokulturen für den Export. Grundnahrungsmittel sollen im Rahmen des Freihandelsabkommens mit den USA zunehmend importiert werden. Das sind schlechte Nachrichten für die rund 180.000 Campesinos, die ohnehin in prekären Verhältnissen produzieren müssen. Die heimische Bauernschaft kann mit den subventionierten Produkten aus dem Norden nicht mithalten. Ihr Schicksal – zumindest für die junge Generation – ist die arbeitsintensive Fertigungsindustrie. Alternativen auf dem Land werden nicht angeboten.
Fast ein Drittel der landwirtschaftlich genutzten Flächen ist rechtlich umstritten. Die meisten Parzellen, die im Rahmen der Agrarreform verteilt wurden, sind nie ins Grundbuch eingetragen worden. Für manche Grundstücke gibt es zwei oder mehr Titel. Die Banken verweigern da jeden Kredit. Eine staatliche Entwicklungsbank, die die Kleinproduktion fördern würde, gibt es nicht mehr.

In ihrer Wahlpropaganda warnten die Liberalen vor einer Rückkehr der „finsteren Nächte“ des Sandinismus. Sie erinnerten an die Knappheit mancher Konsumgüter und die zahlreichen Stromausfälle. Die Energiekrise brach damals aus, als Venezuela und Mexiko ihr Erdöl nicht länger auf Pump liefern wollten. Die viel drastischere Krise herrscht aber jetzt. Denn seit über zehn Jahren wurde praktisch nicht in den Ausbau von Kraftwerken investiert. Die Privatisierung der Stromversorgung an das spanische Unternehmen Unión Fenosa hat zwar die Strompreise in die Höhe getrieben, doch das Defizit in der Energiegewinnung nicht kaschieren können. Dass das Leitungsnetz hoffnungslos veraltet ist und 27 Prozent der Energie auf dem Transport verloren gehen, macht die Lage nicht besser. Ein Gesetz, das es Unión Fenosa erlauben würde, gegen illegale StromkonsumentInnen vorzugehen, fiel im Parlament durch. Denn das Problem sind nicht die Armen, die die Leitungen anzapfen, sondern die GroßkonsumentInnen, die ihre Betriebe am Zähler vorbei mit Energie versorgen. Ganze Luxuswohnviertel lassen sich gratis beleuchten und ihre Klimaanlagen brummen. Die Stromausfälle von bis zu zwölf Stunden täglich sind nicht nur ein stetes Ärgernis, sondern auch eine Belastung für die Wirtschaft und die Haushalte: Waren in Kühlschränken verderben, Maschinen und Computer stehen still. Freuen können sich nur die Importeure von Notstromaggregaten.

Wenn Nicaragua nicht das Ventil der Emigration hätte, ginge es der Bevölkerung noch viel schlechter. Eine Million, so heißt es, arbeitet im Ausland, die meisten im benachbarten Costa Rica und in den USA. Sie schicken jährlich 800 Millionen US-Dollar an ihre Angehörigen, nach manchen Berechnungen mehr als eine Milliarde. Das ist mehr als 50 Prozent dessen, was die Wirtschaft durch Exporte hereinbekommt. Nur ein Wachstum von mindestens 7,5 Prozent würde eine langsame Umverteilung zulassen. Zuletzt wuchs das Volkseinkommen zwischen drei und vier Prozent. Profitiert haben davon nur die, denen es ohnehin besser geht. Das können auch die offiziellen Daten nicht verschleiern. So können Direktoren und Spitzenkräfte über die vergangenen fünf Jahre einen Reallohnzugewinn von 3,6 bis 12,8 Prozent verbuchen, während die Löhne von ArbeiterInnen und kleinen Angestellten im selben Zeitraum zwischen 5,6 und 12,2 Prozent an Kaufkraft verloren. „Die Mädchen merken, dass das Geld immer weniger wert ist“, klagt die Deutsche Traute Boie, die ein Frauen-Bäckereikollektiv leitet, „aber mehr zahlen kann ich nicht, denn die Rohstoffe werden immer teurer“.
Dazu kommt, dass die Steuerlast vor allem auf den Schultern der KleinverdienerInnen liegt. Der Unternehmer und Immobilienmakler Manuel Ignacio Lacayo hat keine gute Meinung von seinen Kollegen: „Die Unternehmer in Nicaragua sind alle Schweine: Sie bestechen lieber Regierungsfunktionäre, als Steuern zu zahlen.“ So konnte die Familie Pellas, der unter anderem fast die ganze Zuckerwirtschaft des Landes gehört, einen Glaspalast mitten in Managua steuerfrei bauen. Das Gebäude, in dem die private Banco Centroamericano ihren Sitz hat, wurde als touristische Investition deklariert. Ihr Vermögen, so Lacayo, veranlagen die nicaraguanischen Millionäre lieber in den USA, als es in die heimische Wirtschaft zu stecken.
Eine Regierung mit einer sozialen Agenda, wie sie Daniel Ortega zumindest im Wahlkampf versprochen hat, fände ein weites Betätigungsfeld. Wirtschaft und Finanzen werden allerdings in der Hand des konservativen Vizepräsidenten Jaime Morales Carazo liegen. Er machte unter Diktator Somoza gute Geschäfte und fungierte dann im Exil in den USA als Sprecher der Konterrevolutionäre. Man darf auf das Kabinett, das im Jänner vereidigt wird, gespannt sein.

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